2. Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse der Gruppeninterviews mit Akteuren auf dem Wohnungsmarkt
Die Auswertung der beiden Gruppeninterviews mit neun Vertretern aus dem Wohnsektor lassen sich in neun Themenfeldern gliedern. Zum Einstieg werden die subjektiven Sichtweisen auf Wohnungsnot der Teilnehmer vorgestellt. Danach folgt das Hauptkapitel mit Blick auf die Problemstellungen im Bereich des Wohnungsmarkts und der damit verbundenen Wohnungsnot für die unterschiedlichen sozialen und gesellschaftlichen Gruppen. Im Anschluss werden die vielfältigen Lösungsansätze zur Entspannung auf dem Wohnungsmarkt und Verminderung der Wohnungsnot vorgestellt. Es werden jeweils die wesentlichen Aspekte aufgelistet, die von einzelnen Teilnehmern genannt wurden.
I. Subjektive Sichtweisen auf Wohnungsnot – Ob es Wohnungsnot gibt oder nicht, ist eine Frage der Perspektive!
Ist Wohnungsnot der richtige Befund und die treffende Beschreibung für die aktuelle Lage in Deutschland? Übereinstimmung besteht bei den Teilnehmern darin, dass im ländlichen Raum die angespannte Wohnraumsituation tendenziell nicht so groß ist wie in den Ballungsgebieten. Die Beteiligten aus den Gruppeninterviews ziehen zum Verständnis von Wohnungsnot sehr unterschiedliche Bezugspunkte und Kriterien heran.
Bei der Übernahme einer Perspektive des von Wohnungsnot betroffenen Personenkreises zeigen sich weitreichende negative Auswirkungen auf den Lebensalltag, die einen dringenden Handlungsbedarf erfordern.
- Sobald eine Wohnungsnot droht, wirkt sich dies auf alle anderen Bereiche im Leben negativ aus (u.a. Unsicherheit, fehlende Planungssicherheit, psychische Belastung, Zukunftsängste) und bestimmt den Alltag.
- Jede/r Bürgerin hat ein Recht auf Wohnraum. Dieses Recht gehört in dem Bereich der Daseinsfürsorge und -vorsorge. Hier Fürsorge zu tragen, bedeutet einen Beitrag zum würdigen Leben zu gewährleisten. Dies zu erreichen ist eine Gemeinschaftsaufgabe und erfordert eine gesellschaftliche Verantwortung für die „Schwachen“.
Relativierungen bzw. eine Neudefinition von Wohnungsnot ergeben sich, wenn Beteiligte in den Gesprächen andere Maßstäbe und Bezugssysteme wie fehlendes Vermögen, Leerstand oder andere historische Vergleiche heranziehen, wie z.B.:
- Es gibt keine Wohnungsnot, sondern eine Geldnot. Die Mietsuchenden können die Preise für die vorhandenen Wohnungen nicht bezahlen.
- Der vorhandene Wohnraum ist eigentlich in Deutschland ausreichend, weil es mehr Leerstand von Wohnungen gibt als Wohnraumbedarf. Aus dieser Perspektive gibt es keine Wohnungsnot sondern einen hohen Leerstand sowie ein ungleiches Verteilungsproblem von Leerständen.
- Vergleichsweise zu der Situation nach dem Krieg ist die heutige Situation luxusmäßig als Wohnungsnot zu bezeichnen.
Diese sehr unterschiedlichen Positionierungen und Grundhaltungen sind im Gespräch strukturierend und haben grundlegende differente Sichtweisen auf die Lebenslage Wohnungsnot zur Folge. Je enger die Gesprächsteilnehmer mit den Notlagen der Menschen in Berührung kommen, desto mehr tritt die konkrete Wohnungsnot und ihre Folgen der betroffenen Menschen in den Fokus.
II. Aktuelle Problemstellungen: Rechtsvorschriften und Verkaufsprinzipien erhöhen Baukosten und erschweren eine bezahlbare Wohnraumbeschaffung.
Aus einer wirtschaftlichen Perspektive verteuern immer mehr Vorschriften das Bauen. Mit den Ansprüchen an klimafreundliche Bauweise u.a. entstehen Kosten, die im Endeffekt die Mieten verteuern.
- Aktuelle Bauvorschriften z.B. über Abwasser- und Regenwassermaßnahmen verteuern die Grundstückspreise.
- Rechtliche Vorschriften der Raumordnung und infolge der Regionalplanung schränken vor allem kleinere Gemeinden und Kommunen in ihrer Freiheit, Flächen auszuweisen, ein. Daraus resultiert auch eine Knappheit an Freiflächen.
- Kommunen fordern beim Bauen zusätzliche Maßnahmen, z.B. Photovoltaik /Solartherme. Dadurch erhöhen sich die Baukosten.
- Die bürokratischen Vorgaben und Regelungen beim Bauen erfordern hohe Arbeitsressourcen und somit viel Geld. Gleichzeitig sind die Organisations- und Entscheidungsprozesse zu langsam.
- Verkaufsregeln bei Grundstücken sind ein weiterer Preisantreiber: Wer am meisten bezahlt, be-kommt den Zuschlag. Die Praxis zeigt: Das ist in der Regel häufig der Investor.
III. Fehlender bezahlbarer Wohnraum und verfehlte Baupolitik. Zur Diskrepanz zwischen Einkommen und Mietpreis und die Suche nach weiteren Gründen der Preissteigerung.
Bei der Suche nach Gründen für die derzeitige Misere auf dem Wohnungsmarkt kommen bei einer verfehlten Baupolitik in den letzten Jahrzehnten folgende Aspekte in den Blickpunkt:
- Fehlender sozialer Wohnungsbau bringt Menschen in Schwierigkeiten bzw. in Notsituationen, sich eingliedern bzw. teilhaben zu können. Es besteht ein gesellschaftlicher Auftrag bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung zu stellen.
- Anteil an Eigentum im Wohnbereich ist in Deutschland zu niedrig (Deutschland mit 51,1% Eigen-tum hinter der Schweiz mit der geringsten Eigentumsquote in Europa). Der Anschaffungspreis des Eigentums ist heute viel zu hoch wie ebenso die Miete.
- Reutlingen hat einen sehr hohen Anteil an Einfamilienhäusern (66%). Hier stellt sich die Frage nach einer verfehlten Baupolitik in den vergangenen Jahrzehnten.
- Auch in ländlichen Regionen wird das Bauen teurer und hat zur Folge, dass sich viele Menschen das Ausweichen aufs Land nicht leisten können. Auf dem Land fehlt ein Geschosswohnungsbau. Dies ist für Investoren nicht so lukrativ wie in der Stadt.
- Die Zunahme an möblierten Wohneinheiten, auch in Reutlingen, trägt zu Preissteigerungen bei (höhere Rendite für Vermieter).
- Grundsteuererhöhung durch die Kommunen trägt zur Verteuerung der Wohnungen bei.
- Fehlende Wohnungsbaupolitik in den letzten Jahrzehnten führt zur Misere. Private Vermieter können aus ihrer Sicht da wenig ausrichten an dieser Lage.
- Das Angebot an bezahlbaren Wohnraum ging und geht stetig zurück.
IV. Die Infrastruktur wird als strukturierendes Moment für die wechselseitigen Auswirkun-gen zwischen Stadt und ländlichen Raum bewertet.
Die Perspektiven auf den Wohnungsmarkt in städtischen und ländlichen Regionen sind nicht einfach zu strukturieren. Die ländlichen Regionen zeigen ein vielfältiges Bild. Besonders hervorgehoben wer-den bei regionalen Betrachtungen infrastrukturelle Aspekte.
- Die Mobilität vor Ort ist nach Einschätzung der Beteiligten ein zentraler Aspekt für die Woh-nungswahl.
- Auf dem Land fehlt es zum Teil an Infrastruktur, u.a. Verkehrsanbindung, Kindergärten, Schulen, Ärzte, Arbeitsplätze. Deshalb ziehen viele – auch ältere Menschen – in die Stadt und verknappen dort das Wohnraumangebot.
- Der fehlende Wohnraum in der Stadt und die fehlende Infrastruktur auf dem Land wirkt sich auf andere Lebensbereiche wie Arbeitsverhältnisse aus. Ohne Auto auf dem Land sind Menschen z.B. nicht in der Lage in der Stadt zu arbeiten. Folge: Der Arbeitsmarkt für die Person grenzt sich ein, wenn sie sich nicht räumlich verändern.
- Leben in der Stadt hat viele Vorteile – auch ökologische (weniger Berufsverkehr, wenn viele kurze Strecken zum Arbeitsplatz haben und mit dem Fahrrad fahren)
- Ein evt. gegenläufiger Trend: Die Entwicklung der digitalen Welten könnte auch dazu führen, dass durch Homeoffice die Problematik der Mobilität verringert werden könnte.
Den infrastrukturellen Faktor „regionale Denk- und Entwicklungsräume“ zu berücksichtigen und dadurch über den engen Kern einzelner Städte und Gemeinden hinaus die Region in Blick zu nehmen, scheint eine wichtige Grundlage dafür zu sein, dass Stadt und ländliche Region eine sinnstiftende Verbindung herstellen, die bei guter Abstimmung eine Win-Win-Situation für beide Orte/Räume ergeben.
V. Problem Leerstand – Begründungen zu Leerstände von Wohnraum
Die Sicht auf den Leerstand von Wohnraum spiegelt eine große Diskrepanz zwischen den verschiede-nen Welten der beteiligten Teilnehmer, u.a. Leerstand als Problemanzeige versus Leerstand als berechtigtes Interesse für evt. zukünftige Bedarfe den Wohnraum zurückzuhalten.
- Der derzeitige Stand zu Erhebung von Leerständen von Wohnraum in Reutlingen zeigt: 3340 leer-stehende Wohneinheiten (Stand Mitte 2021 /Quelle: Stadt Reutlingen). Besonders in der Innenstadt von Reutlingen gibt es einen hohen Stand an leerstehenden Wohnungen über den Ladengeschäften. Eine Argumentationslinie für diesen Zustand: Die sehr hohen Mieten für die Geschäftsräume sind ausreichend auskömmlich.
- Eine andere Lesart für Leerstände zeigt auf, dass die Rentabilität nicht immer ganz oben steht, sondern Einliegerwohnungen für Familienmitglieder freigehalten werden oder die Möglichkeit offengehalten wird, evt. bei Bedarf eine Pflegekraft im Haus einzubinden.
- Beim Blick in die gesamte Region sind in abgelegenen Landregionen z.T. Leerstände auch nicht auf dem Markt zu vermitteln.
- Alle Bemühungen bisher Vermieter zu bewegen, Leerräume zu vermieten, sind wenig erfolgreich, nicht nur in Reutlingen1. Begründet wird dies u.a. auch durch die Angst mit der Vermietung ein hohes Risiko einzugehen (Mietnomaden etc.).
- Spekulativer Leerstand – so eine Position in der Gesprächsrunde – gibt es so gut wie nicht in Reut-lingen. Der Zustand wird als funktionierender Wohnungsmarkt wahrgenommen.
VI. Mangel an geeigneten Wohnraum als Problem und Hemmnis für Suchende
Der fehlende Bestand an bezahlbarem Wohnraum wird in den Gesprächen von einzelnen Gesprächsbeteiligten angesprochen. Auf die weitreichenden Folgen für die Suchenden wird hingewiesen.
- Fehlender Wohnraum (lange Warteliste bei der Wohnbaugesellschaft) ermöglicht keinen Spielraum bei Vermietungen.
- Inserate von Wohnungen sind sofort nach Erscheinen wieder vom Markt.
- Eine Wohnung zu finden z. B. ist für eine mehrköpfige Familie ohne z.B. festes Einkommen auf dem Wohnmarkt sehr schwierig.
VII. Weitere Problemstellungen auf dem Wohnungsmarkt
Wohnungen als rentable Anlageform, Kooperationshemmnisse durch Datenschutz sowie die Diskriminierung einzelner Zielgruppen sind weitere Hemmnisse für die Zuführung von Wohnungen auf den Markt. Konkret wird dies in den folgenden Beispielen sichtbar.
- Immobilien werden derzeit nicht verkauft, da keine besseren Anlagemöglichkeiten vorhanden sind. Das gleiche gilt für Bauland, das zurückgehalten wird, da es keine adäquate Geldanlage gibt, die auch z.B. für eine Anlage für die Nachkommen eine „sichere Bank“ bietet.
- Kooperationen zwischen Wohnungsmarkt und Behörden sind aufgrund des Datenschutzes er-schwert.
- Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt (u.a. aufgrund von Migrationsgeschichte, Gefängnisaufenthalt oder Musikerin, der/die in der Wohnung üben muss)
VIII. Aktuelle Beiträge der Akteure zur Verringerung der Wohnungsnot
Alle Akteure sehen in ihrem jeweiligen Praxisfeld Ansätze, um den Wohnungsmarkt zu entspannen, von der persönlichen Begleitung von Menschen in Wohnungsnot bis zu der Annahme, dass durch den Verkauf von neuen teuren Wohnungen nachrangig wieder dem Markt billigerer Wohnraum zur Verfügung steht.
- Wohlfahrtsverbände unterstützen Menschen in Wohnungsnot und engagieren sich für adäquate Lebensbedingungen.
- Jobcenter steht bei Wohnungsnot betroffenen Bürgerinnen unterstützend bei (SGBII), z.B. Miet-kautionen, Umzugskosten.
- GWG Reutlingen stellt monatlich 30 Wohnungen zur Verringerung der Wohnungsnot zur Verfü-gung.
- Die Kooperation zwischen der Stadt Reutlingen und der städtischen Tochtergesellschaft Woh-nungsgesellschaft verfolgt die Schaffung von Wohnraum, insbesondere auch für den Bedarf an billigen Wohnraum.
- Die Stadt geht neue Wege mit der Konzeptvergabe oder Unterstützung von Baugruppen.
- Die Bereitstellung von mehr Flächen im ländlichen Raum ist ein kommunaler Beitrag.
- Immobilienmakler sehen in der Vermietung und im Verkauf von Wohnungen im oberen Preissegment einen Beitrag, weil dadurch andere Wohnungen wieder frei werden.
IX. Lösungsansätze aus der Perspektive der Gesprächsteilnehmer
Im Rahmen der beiden Gesprächsgruppen sind Lösungsansätze auf unterschiedlichen Ebenen formuliert worden. Neben der Reduzierung von Bauvorschriften, neuen Beteiligungsformen und neuen Zugänge von Bürgerinnen am Wohnungsmarkt und Regulierungen für Leerstand bzw. für Fehlbelegungen, gab es auch die Idee, Kooperationen untereinander zu fördern und die Zusammenarbeit zu stärken.
Neue Wege und Beteiligungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Vergabeprinzipien erproben und fördern
- Wohnungstausch fördern (z.B. intergenerative Tauschprojekte).
- Öffentliche Fördermittel (u.a. Wohngeld) in den Eigentumserwerb von einkommensschwachen Zielgruppen zu investieren.
- Entlastung und Risikominderung von Vermietern durch die Mediation der Stadt Reutlingen. Stadtverwaltung als Zwischenvermieter einsetzen.
- Für benachteiligte Gruppen auf dem Wohnungsmarkt könnten Belegungsrechte der Stadt/Wohlfahrtsver-bände eine Lösung bieten.
- Auswahlverfahren diskriminierungsfrei gestalten.
Regulierungen für Leerstand, Freiflächen und Fehlbelegungen einführen
- Leerstände bearbeiten, um ein lebendiges Leben in der Stadt, Kommune und Gemeinde zu ermöglichen.
- Einführung von Fehlbelegungsabgaben, die dann für den Ausbau von Sozialwohnungen genutzt werden können.
- Tiny-House als Zwischenlösungen für bebaubare Freiflächen fördern.
Gesetzliche Regelungen minimieren, bauen vereinfachen, um billiger Wohnraum herstellen zu können
- Reduzierung der baulichen Vorschriften, u.a. Stellplätze, keine Tiefgaragen, um damit die Baukosten zu senken.
- Baulandmobilisierungsgesetz mit entsprechenden Instrumenten ausstatten, um Erleichterungen herbeizuführen, um viel bauen zu können
- Modulbauweise etablieren, Mehrgeschosswohnraum einsetzen, um günstig Wohnraum herzustellen.
Intensivierung und Stärkung von Kooperationen
- Komplexität der Lage benötigt ein gemeinsames Handeln aller Akteure.
- Kooperationen zwischen Kommune, Wohnungsgesellschaft und Wohlfahrtsverbände intensivieren, um individuelle Lösungsansätze für Menschen in Wohnungsnot zu finden.
- Gemeinsame Kooperationsstrukturen etablieren, um ein gegenseitiges Verständnis zu entwickeln. Das gemeinsame Ziel zu verfolgen, eine bedarfsgerechte Versorgung zu entwickeln. Hierzu können einzelne gemeinsame Projekte hilfreich sein.
- Gemeinsamer Auftritt von am Wohnungsmarkt aktive Akteurinnen gegenüber der Politik, um politisches Handeln zu forcieren. Vorschlag: Bildung einer Wohn-Allianz in der Region Reutlingen.
Grundsätzlich gilt es den Ausbau des sozialen Wohnungsbaus stark zu intensivieren.
Die ausführlichen Darstellungen der Ergebnisse aus den Gesprächen mit Akteuren auf dem Wohnungsmarkt werden im folgenden Kapitel präsentiert.